STATE OF THE ARTS
Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Tränenmeer, 2019
Raphaela Vogel
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Raphaela Vogel

Raphaela Vogel

Tränenmeer, 2019
Flatscreen, verchromtes Stahlrohr, Hundehaare, Polyurethan Elastomer, Duschstuhl, Lautsprecher, Verstärker
Video: 19:21 Min.
Courtesy De Pont Museum, Tilburg

Puppenruhe, 2019
Aluminiumtraversen, Kronleuchter, Puppen
Courtesy die Künstlerin und BQ Berlin

Morgenstern, 2011‒2019
Acryl auf Leinwand, Polyurethan Eelastomer
Courtesy Sammlung Anke und Frank Delenschke

Wizard, 2019
Surfsegel
Courtesy die Künstlerin und BQ Berlin

Hijab Hund, 2019
Buntstift, Öl, Lack, Lederleim auf Ziegenleder, Polyester
Courtesy die Künstlerin und BQ Berlin

Website

*1988, Nürnberg, Deutschland
Lebt in Berlin, Deutschland

© Raphaela Vogel Tränenmeer, 2019, Courtesy De Pont Museum, Tilburg

Die dichte, vielschichtige Dramaturgie muss sich der Besucher eigenständig erschließen.

Podcast – Paula Mirsch im Gespräch mit Johanna Adam (Kuratorin)

Raphaela Vogel verbindet unterschiedliche, oft konträre Medien und Genres der Kunst auf virtuose Weise. Ihre Installationen vereinen Objekte und Skulpturen mit Videos, in denen sie oft selbst auftritt, singt oder Klavier spielt. Malerei, Collagen und Assemblagen finden ebenfalls Eingang in ihr Werk. Ihre große Stärke aber liegt in der Inszenierung von komplexen Dramaturgien im Raum, in denen sich Narrationen zwischen skulptural ausgelegten Medienstationen ergeben. Diesen oft überbordenden Installationen steht man wie einer Traumwelt gegenüber: Alle Elemente scheinen zusammen zu gehören, bilden aber keine logische oder lineare Erzählung.

Die eigene Person im Werk auch körperlich präsent oder sichtbar werden zu lassen, spielt bereits seit den 1960er Jahren eine wichtige Rolle in der bildenden Kunst. Insbesondere Künstlerinnen nutzten Performances, Video und Fotografie, um den weiblichen Körper aus der Rolle des passiven Objekts in der Kunst zu befreien. In der heutigen Generation ist dieses Selbstverständnis von einem Pluralismus der Möglichkeiten längst gängige Praxis geworden, was auch im Werk von Raphaela Vogel spürbar wird.

Raphaela Vogel, Hijab Hund (Ausstellungsansicht), Courtesy die Künstlerin und BQ Berlin, Foto: Zöhre Kurc, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH
Raphaela Vogel, Puppenruhe (Ausstellungsansicht), Courtesy die Künstlerin und BQ Berlin, Foto: Zöhre Kurc, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

Raphaela Vogel, Morgenstern (Ausstellungsansicht), Courtesy Sammlung Anke und Frank Delenschke, Foto: Zöhre Kurc, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

In der Videoinstallation Tränenmeer agiert die Künstlerin in einem leuchtend pinkfarbenen Kleid. Man sieht sie, umtost von Wellen und schäumender Gischt, barfuß auf einem Felsen stehen und Akkordeon spielen. Das Video entfaltet seine Sogwirkung durch die 360-Grad-Kameraperspektive der Drohne, mit der die Künstlerin sich gefilmt hat. Das Bild ist mit einem eindringlichem Sound unterlegt, der sich aus verschiedenen Schichten zusammensetzt: Babygeschrei, Video-Schnittgeräusche, eigene Klavier-Improvisationen, das Ticken einer Uhr sowie der Schlager Ich hab keine Angst der Sängerin Milva, außerdem wird die berühmte Todesfurcht-Szene aus Heinrich von Kleists Drama Prinz Friedrich von Homburg zitiert.

Ausstellungsansicht, Raphaela Vogel, Tränenmeer, Foto: Zohre Kurc, 2020

Ausstellungsansicht, Raphaela Vogel, Tränenmeer, Foto: Zohre Kurc, 2020

Die Vielschichtigkeit dieser im weitesten Sinne von Angst und Ausschluss handelnden Bilder und Geräusche vermindert nicht deren Intensität. Die virtuelle, filmische Sphäre vermischt sich mit der physischen des arrangierten Raumes und der Objekte. Als Anfangs- und Herzstück der Präsentation bestimmt Tränenmeer die Atmosphäre und damit auch den Kontext der Werke, die Raphaela Vogel zu ihm in Beziehung setzt. Für die Skulptur Puppenruhe hat sie ein Bündel Puppen wie ein Nest aus kleinen, leblosen Körpern in die Mitte einer Traversen-Konstruktion gehängt. Verknüpft mit dem Sound des Babygeschreis und der benachbarten Skulptur, einer überdimensionale Spinne, entsteht eine psychisch komplexe Gemengelage. Das notorisch angstbesetzte Motiv der Spinne ist immer auch weiblich konnotiert, wozu die Künstlerin auch die eigene Person ironisch in Bezug setzt.

Die Fülle der Objekte beruht indes nicht auf einem Horror vacui, sondern auf einer künstlerischen Absicht. Die raumgreifenden Setzungen stellen eine Nähe zwischen Besucher und Werk her, die dem Impuls, auf Distanz zu gehen, entgegensteht. Der Raum ist vollständig besetzt – sowohl physisch als auch akustisch und gedanklich. Auch das dicht geknüpfte Netz aus Bezügen, die sich wie begriffliche Fäden zwischen den Arbeiten entspinnen, scheint den Betrachter immer stärker einzuweben.

Johanna Adam

Raphaela Vogel ist in Nürnberg geboren und hat an der dortigen Akademie der Bildenden Künste studiert, bevor sie als Meisterschülerin an die Städelschule nach Frankfurt wechselte. Sie lebt und arbeitet heute in Berlin.

Ausstellungsansicht, Raphaela Vogel, Wizard, Foto: Zohre Kurc, 2020

Simon Fujiwara

Simon Fujiwara

Empathy I, 2018
5D-Simulator-Installation (mit Ton, Video,
Bewegung, Wasser und Wind, 3:49 Min.
Courtesy der Künstler und Esther Schipper Gallery, Berlin

Instagram

*1982 in Harrow, Großbritannien
lebt in Berlin and London

Simon Fujiwara setzt sich mit den Bildern und Narrativen unserer Zeit auseinander. Das Phänomen, das er als ‘Hyper-Engagement’ beschreibt, basiert auf der Beobachtung kapitalisierter Unterhaltungswelten, die unser Konsum- und Kommunikationsverhalten prägen. Der Künstler ist an den Strategien interessiert, mittels derer sich Individuen innerhalb der Gesellschaft definieren und profilieren – in einer Zeit, in der das Internet einen maßgeblichen Teil unserer Lebensrealität bestimmt. Die Grenzen der einzelnen Medien überschreitend, arbeitet Fujiwara mit Video und Installation, Performance, Skulptur, Malerei und verschiedensten technischen Medien.

Im Zentrum der Arbeit Empathy I steht ein von Freizeitparks inspiriertes 5-D-Kino. Statt einer fiktionalen Reise durch Fantasiewelten präsentiert der Künstler jedoch gefundene Youtube-Videos, die extrem emotionale oder intensive körperliche Erfahrungen zeigen. Diese Videos anonymer Nutzer, die in massenhafter Zahl im Internet zu finden sind, zeigen private, teils intime Momente. Durch deren Umsetzung in einen Simulator, dessen bewegliche Sitze der Kamerabewegung folgen, steigert Simon Fujiwara die Beobachtung zu einer körperlichen Erfahrung. Die Intensität und Geschwindigkeit der Bilder und die zusätzliche physische Komponente überfordern uns insofern als unser Gehirn eine längere Zeitspanne benötigt, um die Bedeutung einer momentanen Situation zu erfassen und einzuordnen. Ausgelöst wird stattdessen eine Aneinanderreihung übersteigerter, aber simulierter Emotionen wie Erregung, Angst oder Freude. Simon Fujiwara reflektiert hier die beschleunigte Dynamik unseres Konsums von Bildern – was opfern und was wir gewinnen wir durch ein Leben, das zusehends durch eine Kameralinse transzendiert wird?

Ausstellungsansicht Simon Fujiwara, Empathie I, Foto: Zohre Kurc, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

There is no narrative or dramatic arc leading to an emotional climax

Unsere Welt ist heute weitgehend digitalisiert. Wir kommunizieren über verschiedene digitale Medien, schauen Filme per Streaming, lesen E-Books, spielen Online-Games oder informieren uns in der digitalen Presse und sozialen Medien über die neusten Meldungen. Der technische Fortschritt hat eine Vielzahl neuer Möglichkeiten geschaffen, die das gesellschaftliche Miteinander nachhaltig verändern. Dass sich unsere Medienkultur viel tiefgreifender gewandelt hat, als es sich in einem Wechsel vom Programmfernsehen zum Konsum „on demand“ oder vom gedruckten Buch zum E-Reader zeigt, ist längst Thema der jüngsten Medienkritik. Zu den Kennzeichen dieser Veränderungen gehört nicht nur die erhöhte Geschwindigkeit von Kommunikation und Information oder die Schwierigkeit zwischen Journalismus, Meinungsmache und Werbung zu unterscheiden, sondern auch die Verschiebung des klassischen Sender-Empfänger-Modells. Während sich in den alten Massenmedien (etwa Zeitungen und Fernsehen) ein Sender an eine Vielzahl von Empfängern richtete, verändert sich diese Beziehung durch die sozialen Medien dahingehend, dass jeder zum potenziellen Sender wird.

Beobachtungen wie diese waren Ausgangspunkt für die Arbeit Empathy I. Die beschleunigte Dynamik des Konsums von Bildern sorgt für einen erbitterten Kampf um unsere Aufmerksamkeit. Die sich ständig steigernde Menge der verfügbaren Inhalte und Bilder führt aber auch zu einer qualitativen Veränderung. Das emotionalste Bild bleibt in Erinnerung, sei es bizarr, tragisch, komisch oder aufregend. Diesem Prinzip folgt nicht nur unsere Aufmerksamkeit als Empfänger, sondern auch unser Anspruch an den eigenen Erfolg als Sender, der sich in Likes, Shares, Re-Tweets oder Kommentaren misst. Das Wechselspiel, das sich digitale und analoge Welt in diesem Zusammenhang liefern, besteht aus Erfahrungen und Situationen des eigenen realen Lebens, die medial dokumentiert und inszeniert werden. Die erhoffte digitale Resonanz zielt auf eine Bestätigung ab, die einen nicht unerheblichen Teil zur individuellen Identitätsbildung beiträgt. Gleichzeitig wächst das Verlangen nach dem Konsum immer intensiverer digitaler Bilderfahrungen, die Zerstreuung und Stimulation versprechen. Das Ich geriert sich als Produkt und Konsument gleichermaßen und kann somit sein Geltungsbedürfnis ebenso stillen wie seine Neugier und die Lust am Zuschauen. 

Das kurzweilige und intensive Erleben hinterlässt jedoch eine Leere. Keine Erzählung und keine Spannungskurve führen hier zu einem emotionalen Höhepunkt, stattdessen folgt pausenlos eine abgebrochene Klimax auf die nächste. Die begrenzte Fähigkeit der digitalen Technologie, zum befriedigenden Ersatz analoger körperlicher Erfahrung und eigenem emotionalem Empfinden zu werden, wird in Empathy Izum zentralen Thema. Simon Fujiwara stellt in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Stellenwert der körperlichen Erfahrung. Ist es möglich, auch das physische Erleben zu simulieren? Funktionieren unser Körper und Geist tatsächlich so, dass sich echte Emotionen künstlich hervorrufen lassen? Oder wird zwischen physischem und psychischem Erleben im Gegensatz zum medial vermittelten immer eine entscheidende Differenz bleiben, unabhängig vom Fortschritt der Technologie?

Simon Fujiwara reflektiert diese Entwicklungen, indem er uns in einer fein abgestimmten Dramaturgie zu Beobachtern und Teilnehmern verschiedener Situationen macht. Wir begeben uns in einen Wartebereich, wie wir ihn aus dem Alltag kennen: Man zieht eine Nummer, es stehen Sitzmöglichkeiten und ein Wasserspender bereit, freies WLAN wird angeboten, und in der Ablage des Tisches befinden sich mehrere Ausgaben des Romans Fifty Shades of Grey. Die Bücher sind jeweils dort mit einem Lesezeichen markiert, wo sich die beiden Protagonisten der Geschichte freiwillig auf eine sado-masochistische Beziehung einlassen und dies vertraglich festhalten. Fujiwara verweist einerseits darauf, dass wir uns tagtäglich bewusst dem Internet und insbesondere den sozialen Medien ausliefern. Zum anderen unterstreicht er die Widersprüchlichkeit einer Gesellschaft, deren liberale und demokratische Werte konträr zu dem stehen, was der als misogyn und prokapitalistisch kritisierte Roman idealisiert und erotisiert. Vor diesem Hintergrund hat Simon Fujiwara der enorme Erfolg des Romans beschäftigt. Während seiner Recherchen erfuhr er, dass die Wohltätigkeitsorganisation Oxfam so viele Exemplare des Romans als Spenden erhielt, dass sie in einem Aufruf darum bat, von weiteren Schenkungen abzusehen. Diese ließen sich weder verkaufen noch recyceln, da sich der Leim im Einband als giftig erwies. Tausende von Büchern verharrten so in einer Art Schwebezustand ohne Verwendungsmöglichkeit. Der Künstler beschloss, Oxfam den gesamten Vorrat abzukaufen und für seine Arbeit zu verwenden, um für diese Kette von Paradoxien einen Reflexionsrahmen zu schaffen.

Johanna Adam

Simon Fujiwara ist in Japan, Spanien und in Cornwall, Großbritannien aufgewachsen. Architektur an der Universität Cambridge und Kunst an der Städelschule in Frankfurt. Arbeiten des Künstlers befinden sich unter anderem in so renommierten Sammlungen wie dem Museum of Modern Art und dem Guggenheim Museum in New York sowie in der Tate in London. 2010 gewann er sowohl den Baloise Prize der Art Basel und den 2010 Frieze Cartier Award. 2019 gehörte er zu den Nominierten des Preis der Nationalgalerie in Berlin.


Simnikiwe Buhlungu

Simnikiwe Buhlungu

Rolling-A-Joint:
Revisiting Spike Lee, 2015
Courtesy die Künstlerin

Instagram

*1995 in Johannesburg, Südafrika
lebt in Johannesburg und Amsterdam

 

Ya-Dig
Sho-Nuff
Be Any Means Necessary

Simnikiwe Buhlungu kreiert in ihrer Video-Arbeit Rolling-A-Joint: Revisiting Spike Lee spielerisch audiovisuelle Montagen, indem sie gesprochene und geschriebene Wörter mit Sound kombiniert. Sie versteht sich zwar nicht als Performerin, tritt aber in dieser Videoarbeit als Protagonistin auf, indem sie sich Drehbücher von Spike Lee (*1957 Atlanta, Georgia) vornimmt und diese präzise beleuchtet. Sie inszeniert hier den Versuch einer individuellen künstlerischen Kritik an Spike Lees Werk, indem sie den Text seziert, verändert und nachspielt. Der gefeierte Autor, Schauspieler und Regisseur kann ohne Übertreibung als stilbildend für eine ganze Generation der afro-amerikanischen Pop- und Filmkultur gelten. Seine Arbeiten werden auch als „Spike Lee Joints“ bezeichnet und mit einem perfekt gerollten Joint verglichen. Hiervon inspiriert, und als Hommage an den Künstler nahm Buhlungu sein Werk und diese Bezeichnung als Methapher in ihr Video mit auf.

Simnikiwe Buhlungus Video-Arbeiten gleichen Untersuchungen, die die Entstehung und Verbreitung von Wissen grundsätzlich in Frage stellen. Sie arbeitet mit Text-basierten Medien, Video und Installation. Die Künstlerin geht stets von der Theorie aus, dass z.B. Kino und Musik, vor allem aus der afro-amerikanischen Kultur, ein Gefühl von Zugehörigkeit und Solidarität zwischen Afrika und seiner Diaspora erzeugen.

Ihr Interesse liegt insbesondere darin, persönliche, generationsübergreifende und sozio-historische Geschichten zu erzählen und zu einem Netz zu verknüpfen, die Themen aufwerfen, mit denen sie sich beschäftigt und zuweilen auch hadert. Der Einsatz von Sound und gesprochenen Erzählungen sowie die Publikation und Verbreitung von Texten machen einen Großteil ihrer künstlerischen Praxis aus.

Miriam Barhoum

Simnikiwe Buhlungu lebt derzeit in Amsterdam,
wo sie ein zweijähiges Residenzprogramm an der
Rijksakademie van Beeldende Kunsten absolviert.


Nora Turato

Nora Turato

Thanks, I hate it!, 2020
Video

He’s not horny, He’s just very ambitious/
I considered asking the flight attendant whether she would
mind if I jumped out of the emergency door, 2020
Wandmalerei

Courtesy die Künstlerin,
Galerie Gregor Staiger und
LambdaLambaLambda

Instagram

*1991 in Zagreb, Croatia
lives in Amsterdam

 

In den Performances, Videos und Wandarbeiten von Nora Turato ist die Sprache das zentrale Thema. Sie schreibt und performt Spoken-Word-Gedichte, verwebt Textfragmente aus Werbeslogans und Alltagssprache und reflektiert auf diese Weise die Sprach- und Textkultur der Gegenwart. Wie wird Sprache heute verwendet, und welche Signale übermitteln Klang und Sprechweise? Welche Wirkung hat die Ästhetik visuell wahrgenommener Texte? Sprache befindet sich in einem steten Wandel, in ihr kommt der gesellschaftliche Zeitgeist hör- und sichtbar zum Ausdruck. Was sich an ihr in Bezug auf eine kulturelle Entwicklung ablesen lässt, steht im Zentrum der künstlerischen Inventionen von Nora Turato.

Schon bei der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts tauchen Texte und Textfragmente häufig in Bildern und Collagen auf. Dada und Surrealismus verstanden sich sowohl als bildkünstlerische wie literarische Bewegungen. Nicht wenige ihrer Protagonist*innen arbeiteten zugleich mit Malerei, Collagen, Skulptur und auch Dichtung. Gestaltung und Typografie wurden zu einem wichtigen Thema. Kurt Schwitters, einer der bedeutendsten Dada-Künstler, konstatierte: „Typographie kann unter Umständen Kunst sein.“ In der Dichtung wiederum begann etwa um 1930 mit der Konkreten Poesie das visuell-gestalterische Moment an Bedeutung zu gewinnen. Die Sprache selbst wird hier zum Thema, ihre phonetischen und visuellen Aspekte stehen im Mittelpunkt, der Inhalt tritt in den Hintergrund. In den 1960er-Jahren sind es insbesondere die Pop-Art und die Konzeptkunst, die Sprache bzw. Schrift und bildende Kunst miteinander verbinden. Die Erscheinungsformen sind vielfältig, Texte können zum alleinigen Gestaltungsmotiv werden, klare Aussagen treffen oder ausschließlich der Imagination dienen.

Heute haben sich die Bereiche, in denen Sprache und bildende Kunst einander begegnen, so immens vervielfacht, dass häufig kaum noch eine eindeutige Zuweisung an ein bestimmtes Genre möglich ist. Auch in Musik und Literatur, etwa durch die Beat-Bewegung der 1960er-Jahre, haben Spoken Word Performances an Bedeutung gewonnen und sind nicht zuletzt über die Fluxus-Bewegung wiederum ins Blickfeld der bildenden Kunst gerückt. In den Arbeiten von Nora Turato wird die Verschmelzung der Künste direkt erfahrbar: Ihre Praxis umfasst sowohl Spoken Word Performances, Video- und Audio-Arbeiten, großformatige Wandbilder, Grafiken als auch Künstlerbücher. Die Skripte, auf denen ihre Arbeiten basieren, reflektieren sowohl die Medien als auch die gestalterische Form und die Inhalte jener Sprache, mit der wir tagtäglich konfrontiert werden. Textfragmente aus Werbung und Social Media, Alltagsfloskeln, Film und Literatur verdichtet sie zu rhythmischen Sprechakten und visuell eindringlichen Bildern. Im Mittelpunkt ihres Interesses stehen dabei die Wirkung von Sprache im jeweiligen Kontext, die politische Vereinnahmung von Begriffen und die milieuabhängige Interpretation von Sprache.

Johanna Adam

Nora Turato hat an der Rijksakademie van Beeldende Kunsten
und an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam
sowie am Werkplaats Typografie in Arnheim studiert.

Ihre Praxis umfasst sowohl Spoken Word Performances, Video- und Audio-Arbeiten, großformatige Wandbilder, Grafiken als auch Künstlerbücher.

Ausstellungsansicht, Nora Turato, Thanks, I Hate It!, 2020 / He’s Not Horny, He’s Just Very Ambitious, Foto: Zohre Kurc, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH
Ausstellungsansicht, Nora Turato, Thanks, I Hate It!, 2020 / He’s Not Horny, He’s Just Very Ambitious, Foto: Zohre Kurc, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

Laure Prouvost

Laure Prouvost

Metal man and Woman, 2019
Metallskulpturen und Video

Courtesy die Künstlerin und carlier | gebauer, Berlin/Madrid

Website
Instagram
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*1978 Lille, Frankreich
lebt in London and Antwerpen

Laure Prouvost kreiert intermediale Installationen, die sich zwischen Fiktion und Realität bewegen. Ob Film, Video, Sound, Skulptur oder Malerei, stets erzählen ihre Werke ausdrucksstarke Geschichten, wobei sie jedoch nicht dem Muster einer traditionellen, gradlinigen Erzählweise folgt. Vielmehr werden Erwartungen an und die Wahrnehmung von Sprache auf den Kopf gestellt.

Die lebensgroßen Strichwesen Metal Men and Women (aus Betonstahl) mit Bildschirmen als Köpfen erzählen Geschichten, falten gemeinsam eine Bettdecke oder liegen entspannt irgendwo im Raum. Ihre verführerischen Stimmen, die aus Lautsprechern kommen, stammen von der Künstlerin selbst, die so ein starkes Gefühl von Intimität und Ruhe erzeugt.
Prouvost schafft einen sinnlichen Rahmen, spielt mit Missverständnissen und Sinnestäuschungen. Die vielschichtigen Interpretationsmöglichkeiten des geschriebenen Wortes sind ein zentrales Element in ihrer Arbeit. Sie will mit der Sprache nur andeuten, Möglichkeiten suggerieren, überlässt die schlussendliche Deutung aber ganz der Fantasie des Betrachters.

Ausstellungsansicht, Laure Prouvost, Fuck I was born to be here, Wandteppich, Foto: Zohre Kurc, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH
 

Ausstellungsansicht, Laure Prouvost, In reflection we rest, Metallskulptur, Video, Papierblätter, Wandteppiche, Zementsäcke, Foto: Zohre Kurc, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

Die Metallskulpturen scheinen ihre Gedanken und Emotionen zu teilen

Die Manipulation von Sprache erinnert bei Prouvost vor allem an die Dadaisten, eine künstlerische Bewegung, die als Zeichen ihrer Ablehnung des bürgerlichen Lebens eine sinnfreie Sprache/Klänge erfand. Dieser Mut, mit Sprache frei umzugehen, zu spielen und zu experimentieren, fasziniert Prouvost und ist Teil ihrer eigenen Arbeitsweise geworden. Prouvost arrangiert ein komplexes Zusammenspiel von geschriebenen Wörtern, Sprache, Geräuschen und bewegten Bildern, was eine intensive, kontemplative Wirkung erzielt. In den schnell geschnitten Videos verbindet die Künstlerin Naturaufnahmen, Textsequenzen, Vogelgezwitscher und Bilder von Menschen/Körpern, die an Traumsequenzen erinnern. Die Künstlerin liebt es, Grenzen zu verwischen, sowohl bei den miteinander kombinierten Medien als auch bei den Inhalten, die sie in ihren Videoarbeiten verwebt. Die Metallskulpturen scheinen ihre Gedanken und Emotionen zu teilen und agieren insofern performativ, als sie direkt zum Publikum sprechen. Die auf diese Weise erzeugte Vertrautheit suggeriert die Möglichkeit einer unmittelbaren Kommunikation zwischen Werk und Betrachter, was ganz im Sinne der Künstlerin ist. Gleichzeitig verweist sie damit auf unsere Beziehung zu Computern und Haushaltsgeräten, die heute ebenfalls mit uns kommunizieren. Diese „smarten“ Alltagsobjekte möchten uns von ihrer Perfektion überzeugen. An den Metallwesen von Laure Prouvost hingegen meinen wir jedoch gerade wegen ihrer kleinen Mängel und Fehler eine nahbare, geradezu menschliche Seite zu entdecken. Die Künstlerin will der Welt mit ihrer Kunst ein wenig „weirdness“ (Verrücktheit) zurückgeben. Sprache bewusst so zu verwenden, dass sie provokant wirkt, aber auch falsch oder missverstanden werden kann, ist für sie ein zentrales künstlerisches Anliegen.

Miriam Barhoum

*1978 Lille, Frankreich
lebt in London and Antwerpen

2013 gewann die Künstlerin den renommierten
Turner Prize in Großbritannien und in 2019
bespielte sie den französischen Pavillon
bei der Biennale in Venedig.


Isabel Lewis & Dirk Bell

Isabel Lewis featuring Dirk Bell

Gazebo SoS (School of Swans) 2020
Open Space
Präsentation der Zeichnung
Courtesy der Künstler*innen

Täglich 11 Uhr, 14 Uhr, 18 Uhr, Di +Mi um 20 Uhr

Isabel Lewis *1981 in Santo Domingo,
Dominikanische Republik

Dirk Bell *1969 in München, Deutschland
Leben in Berlin

Präsentiert mit der Unterstützung von Callie’s, Berlin

Facebook Isabel Lewis
Facebook Dirk Bell

Gazebo SoS 2020 lädt ein, sich der Architektur anzuvertrauen, sich einzulassen, aber vor allen Dingen, den Raum intuitiv zu erfahren. Isabel Lewis will ihr Publikum verführen, auch wenn sie nicht anwesend ist. Sie ist eine Meisterin darin, die sinnliche Wahrnehmung zu schärfen und zu verfeinern, das visuelle Erleben in der Kunst auf alle Sinne zu übertragen. Sie sieht sich in der Rolle der Gastgeberin, die durch die von ihr geschaffenen Räume Entspannung und Wohlbefinden vermittelt und neue Perspektiven öffnet. Multimediale Technologien sind ein fester Bestandteil ihrer performativen Arbeitsweise, ebenso wie ihre lange Kooperation mit der Künstlerin und Geruchsforscherin Sissel Tolaas, der musikalischen Entität LABOUR und der amerikanischen Altphilologin Brooke Holmes.

Für die Bundeskunsthalle arbeitet Lewis mit dem bildenden Künstler Dirk Bell zusammen, indem sie ihren Ausstellungsbereich in einen Aussichtspavillon verwandelt, der an Gartenarchitektur erinnert. Durch das Öffnen der Wände des Oktogons ergeben sich Ausblicke auf die umliegenden Kunstwerke, Sitzmöglichkeiten laden die Besucher*innen ein, zur Ruhe zu kommen, um mit Körper und Geist in Kontakt zu treten.

Bells Werk kann als Kulturkritik in Form einer poetischen Bildsprache verstanden werden. Dieser Ansatz entspricht Lewis’ Bestreben, auf den Ausstellungsort zu reagieren und mit diesem in einen Dialog zu treten. Bell greift die architektonische Sprache des Architekten der Bundeskunsthalle, Gustav Peichl, auf und bezieht sich auf dessen Konzept, in seinem Entwurf „die Demokratie im Herzen Europas“ widerzuspiegeln*, indem er eine achteckige im Boden versinkende Plattform installiert. Eine freistehende Zeichnung erscheint als geisthafte Repräsentation der laufenden schöpferischen Auseinandersetzung performativ im Raum.

Darüber hinaus lädt Isabel Lewis zu einem Workshop-Programm von Künstler*innen ein, mit denen sie das Interesse an Körperwissen teilt: Lou Drago wird in Suspending Time Meditationen mit Musik anleiten, die aus dem Drone- und Minimal-Music-Genre stammen. Auf diese Weise soll versucht werden, mit Hilfe der Meditiation die Zeit aufzuheben. Einen weiteren Programmpunkt bietet Dmitry Paranyushkin, der eine Methode mit der Bezeichnung 8OS entwickelt hat. Seine Workshops basieren auf Körperübungen mit Elementen aus der Kampfkunst Systema, Computer-Techniken, zeitgenössischem Tanz und Improvisationstheater.

Lewis geht es dabei vor allem um die Entfaltung des gesamten menschlichen Sensoriums, als kritische Gegenposition zu den omnipräsenten visuellen Reizen in der heutigen Kultur. In der Idee, den Raum von anderen Künstler*innen/Performer*innen bespielen zu lassen, sieht Lewis eine Chance, die konventionellen Abläufe einer Ausstellung zu hinterfragen. Weiter überlässt sie ihre „Bühne“ unterschiedlichen Formaten, die im begleitenden Vermittlungsprogramm zur Ausstellung stattfinden, z.B. Meet & Speak, Geflüchtete, Migrant*innen und in Deutschland Aufgewachsene entdecken gemeinsam die Ausstellung, oder Hybrid Identities, Hybrid Artworks, ein inklusiver Tanzworkshop.

Miriam Barhoum

Isabel Lewis studierte Literaturwissenschaft, Tanz und Philosophie. Sie arbeitet weit über die Grenzen des zeitgenössischen Tanzes hinaus und entwickelt ihre Arbeiten in einer Vielzahl verschiedener Formate, darunter Lecture Performances, Workshops, Musik-Sessions, Partys und sogenannte „Hosted Occasions“.

Isabel Lewis will ihr Publikum verführen, auch wenn sie nicht anwesend ist.

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* Das markante Gebäude an der ehemaligen „Diplomatenrennbahn““ (A 555) wurde von dem Wiener Architekten Gustav Peichl gestaltet. Es war der heitere, poetische Charakter seines Entwurfs, der aus den 35 Wettbewerbseinreichungen herausstach und die Jury für sich einnahm. Im Juryprotokoll vom Oktober 1986 heißt es: „Das überarbeitete Konzept soll mit dem Neubau der Bundeskunsthalle sowohl funktional als auch gestalterisch die Demokratie im Herzen Europas widerspiegeln.“


Hannah Weinberger

Hannah Weinberger

We Didn’t Want To Leave, 2019
Video- und Soundinstallation
Courtesy die Künstlerin und Gallery Fitzpatrick

*1988 in Filderstadt, Deutschland
lebt in Basel, Schweiz

Hannah Weinberger entwickelt Erfahrungsräume, Sound- und Videoinstallationen, die sie als Gesamtkompositionen konzipiert. Die Arbeit we didn’t want to leave befindet sich in ständiger Veränderung. Durch einen Algorithmus entstehen immer wieder neue Töne, die den Raum jedes Mal anders erklingen lassen und nicht wiederholbar sind. Die Video- und Soundinstallation existiert nur, wenn Besucher*innen anwesend sind. Stille beherrscht den Raum, bis die erste Person eintritt.

In ihrer künstlerischen Praxis geht es Weinberger darum, in einen Austausch mit dem jeweiligen Umfeld zu treten und einen subtilen, aber spürbaren Bruch mit der vertrauten Wahrnehmung zu erzielen. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Expert*innen hat Weinberger Sensoren entwickelt, die erkennen, wann ein*e Besucher*in den Raum betritt, und auf die Art reagieren, wie er/sie sich dort bewegt.

So werden die Sensoren aktiviert und Weinbergers synthetische Kompositionen, gesteuert durch einen Algorithmus, wiedergeben. Allein die Anwesenheit der Besucher*innen löst die Klänge aus. Die Bedeutung des Publikums wird zusätzlich durch eine Video-Installation verstärkt, die den/die Betrachter*in filmt und projiziert, während er/sie sich im Raum bewegt. Die Projektion scheint sich ins Unendliche auszuweiten, während sich das Volumen des Klangs mit der Bewegung des Besuchers verändert. Eine minimalistische Komposition erfüllt die Räume und verwandelt das Publikum in ein Orchester. Experimentell und doch präzise entsteht so eine interaktive Installation, die schließlich zum Soundtrack ihrer Mitwirkenden wird, komponiert von einer Vielzahl von Menschen. Weinberger schafft damit einen Möglichkeitsraum, den die Besucher*innen gestalterisch nutzen können. Ein Mechanismus, den man trotz seiner komplexen Technologie kaum bemerkt, sorgt für ein sinnliches Erlebnis: Ein Fluss aus Sound und Bewegung, auf dem man sich von den selbst geschaffenen musikalischen Wellen treiben lassen kann. Im Mittelpunkt aber stehen das Erleben und der Moment, der nicht wiederholbar ist, die der Arbeit ihren ephemeren, flüchtigen Charakter verleihen.

Miriam Barhoum

Hannah Weinberger studierte an der Zürcher Hochschule der Künste, wo sie 2013 mit einem Master of Fine Arts (Vertiefung Mediale Künste) abschloss. Schon früh in ihrem künstlerischen Werdegang präsentierte sie ihre Arbeiten in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland. Seit 2013 ist sie im Vorstand der Kunsthalle Basel. Weiter ist sie als Dozentin an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel.

In ihrer künstlerischen Praxis geht es Weinberger darum, in einen Austausch mit dem jeweiligen Umfeld

Ausstellungsansicht, Hannah Weinberger, we didn’t want to leave, Foto: Zohre Kurc, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH
 

Gisèle Gonon

Gisèle Gonon

Work With Us, 2018
»Mixed media«,  Audio loop 04:45 min
Courtesy die Künstlerin

Website

*1981 in Saint-Étienne, Frankreich
lebt in Berlin

Gisèle Gonon arbeitet intermedial und kombiniert Skulptur, Zeichnung, Video und Sound. Gonon interessiert sich insbesondere für die durch Analogien, Formen, Farben, die Funktion und den sozialen Kontext, dem ein Medium entstammt. Ihre Recherche verbindet sie mit dem Sammeln von Materialien, die sie künstlerisch bearbeitet: Objekte, Werkzeuge oder Handlungen werden verändert und somit ihrer ursprünglichen Funktion entfremdet.
Die Multimedia-Installation Work With Us stellt Themen und Methoden der modernen Arbeitswelt in Frage und entlarvt dabei vor allem die Werbesprache, die die Unternehmen zur Personalbeschaffung einsetzen. Job-Angebote die lautstark kreative Freiheit, persönliche Entwicklung und Erfüllung versprechen, sind auf dem Arbeitsmarkt allgegenwärtig, um das Interesse potenzieller Bewerber*innen zu erregen, und vor allem in der Welt der Startups weitverbreitet: „Think big and Act fast“, „A positive environment“, „Go for it and own it“, sind Sätze aus dem Audio loop, die man in Gisèle Gonons Arbeit hört. Überschüttet von Angeboten, die das Blaue vom Himmel versprechen, erleben wir den Arbeitsmarkt als komplexes System aus Anreizen, Versprechen und Anforderungen, die weit über das Berufliche hinaus in das private Leben eingreifen.

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Gisèle Gonon, Work with us, Foto: Zohre Kurc, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

Die Künstlerin wirft auf diese Weise einen kritischen Blick auf kapitalistische Glaubenssysteme und beleuchtet deren Einfluss auf die Arbeitswelt.


* Luc Boltanski/Ève Chiapello, Le nouvel esprit du capitalisme, Paris 1999, dt. Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003. Ihr Buch verstehen die Verfasser als Ideologiekritik. Sie untersuchen darin die sich mit der Zeit vollziehenden Veränderungen bei der ideologischen Rechtfertigung des Kapitalismus.

Die Künstlerin wirft auf diese Weise einen kritischen Blick auf kapitalistische Glaubenssysteme und beleuchtet deren Einfluss auf die Arbeitswelt. „Der neue Geist des Kapitalismus“ * findet sich auch in der Startup-Kultur wieder. Es scheint, als wäre es heutzutage nicht mehr ausreichend, nur für ein Unternehmen zu arbeiten. Vielmehr muss man die Werte des Arbeitgebers internalisieren und sich vollkommen mit ihnen identifizieren. Berufserfahrung und Professionalität werden dabei außer Acht gelassen. Ihr Ziel ist es mechanische Abläufe zu stören und zu unterbrechen – eine Art Sabotage zu inszenieren –, und all das in Verbindung mit einem starken politischen Unterton, jedoch immer humorvoll und feinsinnig zugleich. Dies gelingt ihr insbesondere durch die zugespitzte Darstellung des „Kaffee-Brunnens“, mit dem die Künstlerin auf den sogenannten Noria-Effekt verweist. Dieser Begriff beschreibt die Methode, mit der die Lohnkosten-Differenz zwischen neuen, jüngeren Mitarbeiter*innen (geringeres Gehalt) und älteren (höheres Gehalt) berechnet werden kann.

Miriam Barhoum

Die in Frankreich geborene Künstlerin hat ihre Ausbildung an der School of Art and Design in Saint- Étienne vollzogen, sie lebt und arbeitet in Berlin und ist Mitbegründern des Kollektivs CCPC (Collisions, Cataclysmes et Permis de Construire).


Dries Verhoeven

Dries Verhoeven

Songs for Thomas Piketty, 2016
Song #12 Rele, 2020
Aluminium Kassettenrekorder
Courtesy der Künstler

Website
Instagram

*1976 in Oosterhout, Niederlande
Lebt in Berlin und Amsterdam

Dries Verhoeven arbeitet an der Schnittstelle von Performance und Installation. Er strebt danach, die Beziehungen zwischen Zuschauern, Performern, dem täglichen Leben und der Kunst zu verwischen. Oftmals arbeitet er zusammen mit „Außenseitern“, Menschen am Rande der Gesellschaft. Statt klare Aussagen über das Leben dieser Menschen zu treffen, geht es Verhoeven darum die Besucher*innen bei der Betrachtung seiner Kunstwerke aus dem Gleichgewicht zu bringen, der Zweifel zu aktivieren.

In Songs for Thomas Piketty hören wir die Stimme und den Gesang eines albanischen Obdachlosen, dem der Künstler  vor einem Supermarkt in den Bonner Quantiusstraße  begegnet ist. Der Mann ist unsichtbar. Seine Stimme klingt in einer Endlosschleife aus einem Kassettenrekorder, der am Museumseingang platziert ist. Die Arbeit verweist auf aktives Betteln um Geld, das momentan in vielen Städten verboten ist, so auch in Bonn, wo nur stilles Betteln erlaubt ist.

Verhoeven untersucht die Präsenz der Armut im öffentlichen Raum und hinterfragt die Gefühle des Unwohlseins, die uns möglicherweise befallen, wenn wir konfrontiert werden mit denen die (scheinbar) arm sind.

In Westeuropa, wo nach wie vor großer Wohlstand herrscht, steigt die Armut. Innerhalb der EU werden die wirtschaftlich starken Länder von den schwächeren Mitgliedstaaten um Hilfe gebeten. Obdachlose, finanziell schlechter gestellte Menschen aus den Balkanländern sowie ehemals Geflüchtete leben in westeuropäische Städte. Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty belegt, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich in den kommenden Jahren weiter öffnen wird.

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Dries Verhoeven, Songs for Thomas Piketty, 2016 Fotos von © Willem Popelier

Die Audio-installation Songs for Thomas Piketty fordert uns auf, das Unwohlsein zu überdenken, das uns befällt, wenn wir auf der Straße um Geld gebeten werden. 

Gleichzeitig ist es nicht Evident das diese Entwicklung sichtbar wird in unsere Stadtzentren, die immer mehr blitzsauber und aufgeräumt wirken. Parkbänke werden heutzutage so konstruiert, dass man nicht mehr darauf liegen kann, und windgeschützte Nischen werden versperrt. In vielen Großstädten gilt aktives Betteln um Geld im öffentlichen Raum als „aggressiver Akt“ und ist deshalb verboten. Verhoeven meint, dass solche Maßnahmen die repräsentative Funktion des öffentlichen Raumes untergraben. Wer Unbehagen hervorruft, wird subtil zum Schweigen gebracht.

Die Audio-Installation Songs for Thomas Piketty fordert uns auf, das Unwohlsein zu überdenken, das uns befällt, wenn wir auf der Straße um Geld gebeten werden. Für Dries Verhoeven ist das Betteln um Geld eine Art Performance. Schließlich ist die Stimme des Bettlers, seine Sprache – oder auch sein Gesang und seine Musik – ausschlaggebend dafür, ob Passant*innen sich angesprochen fühlen oder eine Spende verweigern und der Situation ausweichen.

Warum lassen wir uns von großen Konzernen so leicht zum Kauf von Produkten aller Art manipulieren, werden aber misstrauisch, wenn ein Mann auf der Straße uns sein Drama verkaufen will? Könnten wir nicht diesen Mann,  seine Leistung, seine Performance, anerkennen, unabhängig von der Glaubwürdigkeit seiner Bitte um Hilfe?

Miriam Barhoum

Dries Verhoeven inszeniert seine Arbeiten häufig als Happenings in Museen, bei Festivals und im öffentlichen Raum, wo sie dem Publikum eine unmittelbare Erfahrung anbieten. Er lebt und arbeitet in Amsterdam und Berlin.


David Shrigley

David Shrigley

The Artist, 2014
Roboter, Motor, Perücke, Papier, Stifte
Courtesy der Künstler und Stephen Friedman Gallery

Inflatable Swan Thing, 2019
Zeitgesteuerte Installation mit aufblasbaren Plastikschwänen
Courtesy the artist and Galleri Nicolai Wallner

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*1968 in Macclesfield, Großbritannien
lebt in Brighton

Es gibt wohl nicht viele Künstler, deren Werke einerseits in Museen, Galerien und auf Kunstmessen zu sehen sind und gleichzeitig bei einem Mode- und Lifestyle-Label zum Verkauf angeboten werden.

David Shrigley setzt Humor und schonungslose Ehrlichkeit als künstlerische Mittel ein. Seine Zeichnungen, Gemälde und Animationsfilme basieren oft auf einem Zusammenspiel von Bild und Text. Seine Skulpturen, Sound-Installationen und Aktionen im öffentlichen Raum vereinen plakative Visualität mit subtilem Witz. Klischees und Zwischenmenschliches aus dem Alltag, aber auch aus dem Kunstbetrieb sind das Futter für seine beißende Satire. Mit The Artist schuf Shrigley eine performative Installation, die den Kunstbegriff und das klassische Verständnis von Autorschaft infrage stellen.

Es gibt wohl nicht viele Künstler, deren Werke einerseits in Museen, Galerien und auf Kunstmessen zu sehen sind und gleichzeitig bei einem Mode- und Lifestyle-Label zum Verkauf angeboten werden. David Shrigley kennt in seiner Kunst keine Festlegung auf ein bestimmtes Medium. Dies gilt für die Entwicklung seiner Ideen ebenso wie für deren Umsetzung in Form und Materialien. Die Installation The Artist produziert Zeichnungen am laufenden Band, die jedoch nicht mehr von Künstlerhand gefertigt werden, sondern von einem kleinen Roboter (einem Staubsauger mit Perücke), der die Zeichenstifte in den Nasenlöchern führt. Seine Bewegung entspricht der üblichen Steuerung für staubsauger-Roboter und ist nicht durch den Künstler bestimmt. Shrigley, dessen Werk in erster Linie aus der Zeichnung entsteht, führt auf diese Weise insbesondere eines vor Augen: Die Ausführung ist nicht das eigentliche künstlerische Moment. Der künstlerische Akt liegt – unabhängig von Technik und Medium – immer in der Idee.

Auch bei der Distribution seiner Werke ist Shrigley offener als es auf dem Kunstmarkt üblich ist. Seine Arbeiten werden nicht nur in renommierten Galerien und auf internationalen Kunstmessen angeboten, sondern sie sind auch als Massenprodukte über seinen Online-Shop und andere Anbieter erhältlich. Diese Form der Grenzüberschreitung und das bewusste Spiel mit den Gepflogenheiten bestimmter Milieus – insbesondere des Kunstbetriebs – sind für Shrigley immer wieder ein Thema. Humor spielt dabei stets eine wichtige Rolle, die dabei mitschwingende Hinterfragung bleibt ihm aber ein ernsthaftes Anliegen. Er stellt nicht nur jene Hierarchien infrage, die innerhalb der Kunst zwischen „high“ und „low“, d.h. zwischen Hoch- und Subkultur, unterscheiden. Er bewegt sich auch selbst spielerisch innerhalb dieser Felder und zwischen den unterschiedlichen Medien. Seine Rolle als Künstler nimmt er in diesem Zusammenhang ebenso aufs Korn wie die Regeln, die ihm der Kunstbetrieb immer wieder vorzugeben versucht.

Johanna Adam

David Shrigley hat an der Glasgow School of Art in Schottland studiert.
2013 war der Künstler für den renommierten Turner Prize
in Großbritannien nominiert. Er lebt und arbeitet in Brighton.


David Shrigley, Inflatable Swan-Thing (Ausstellungsansicht), Courtesy: The artist and Galleri Nicolai Wallner, Copenhagen, Foto: Zöhre Kurc, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

David Shrigley, Inflatable Swan-Thing (Ausstellungsansicht), Courtesy: The artist and Galleri Nicolai Wallner, Copenhagen, Foto: Zöhre Kurc, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH
David Shrigley, The Artist (Ausstellungsansicht), Courtesy: The artist and Galleri Nicolai Wallner, Copenhagen, Foto: Zöhre Kurc, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

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